Die Farbe des Nichts

Ein Migrantenleben, erzählt von Tarek Eltayeb.
Susanna Engelmann – Neue Zürcher Zeitung

Hamza sitzt auf einem Stein vor dem Lehmhaus seiner Mutter. Düster betrachtet er den ausgedorrten Erdboden. Mit seinen Füßen versucht er die Risse, die sich "wie die ineinander verwobenen Fäden eines Spinnennetzes über den Boden ziehen", mit Staub zuzuschütten. "Aber was können schon zwei kleine Füße für ein ganzes Dorf tun!", denkt er bitter, denkt und spuckt aus, spuckt aus und denkt: "Seit sich Verwüstung und Dürre ausgebreitet haben und sich der Regen rar gemacht hat, ist das Unheil gnadenlos über uns hereingebrochen: Trockenheit, Krankheit, Qualen und Tod. Wir sind so gut wie tot. Wind kommt auf und wirbelt Staub durch die Luft. Ich schließe für ein paar Augenblicke die Augen und als ich sie wieder öffne, sind meine schwarzen Füße mit leblosem Staub bedeckt, Staub, der mich lebendig begraben möchte, wie er schon Hunderte aus unserem Dorf und dem Nachbardorf begraben hat."

Hamza ist der junge Ich-Erzähler des 125 Seiten kurzen Romans Städte ohne Dattelpalmen von Tarek Eltayeb. Auf 19 oder 20 Jahre schätzt er sein Alter, genau kennt er es nicht, denn in seinem Dorf im Sudan gibt es kein Geburtsregister. Ungleich schlimmer aber ist, daß es das Dorf selbst nicht mehr lange geben wird. Mit diesem buchstäblich verwüsteten Ort beginnt und endet das Buch. "Vom Dorf" heißt das erste seiner fünf Kapitel, "Ins Dorf" das letzte. Die drei Mittelkapitel lauten ähnlich knapp und vage "In der Stadt", "In eine andere Stadt", "In andere Städte". So karg die Kapiteltitel, so karg das Migrantenleben, dessen Stationen sie bezeichnen.

Es ist die Not der vom Vater im Stich gelassenen Familie, die Hamza zum Migranten macht. Er will Richtung Norden ziehen und sich dort eine Arbeit suchen, um die Familie mit Geldsendungen im Dorf so lange zu unterstützen, bis er sie zu sich holen kann. Leise nimmt er Abschied, zunächst von der Dattelpalme seiner Kindheit, die bereits so ausgezehrt ist, daß ihr sämtliche Blätter ausgegangen sind, und dann von der allen Schicksalsschlägen und Fehlgeburten geduldig trotzenden Mutter und den zwei kleinen infektgeschwächten Schwestern. Anders als er selbst haben diese das Dorf nie grün gesehen. Für sie hat es schon immer jene einzige Farbe, auf die die Bestie der Verwüstung alles reduziert - die "Farbe des Nichts".

Die Lektüre des Buches, sie wäre allein deshalb schon lohnend, weil es seinem Autor gelungen ist, eben diese Farbe des Nichts sichtbar zu machen. Seit sieben Jahren lebt Tarek Eltayeb, der 1959 in Kairo als Sohn sudanesischer Emigranten geboren wurde, in Wien. Und dort, in der edition selene, ist sein Roman (man stolpert über das gewaltige Etikett für diese so unprätentiöse Prosa) auch erschienen; Ursula Eltayeb hat den 1992 erstveröffentlichten Text aus dem Arabischen übersetzt. Zwischen die sandfarbenen Deckel seines Buches hat Tarek Eltayeb kleine Illustrationen gestreut. Und doch sind es eher die Bilder seiner eindringlich-einfachen Sprache, die sich einprägen: wenn etwa Hamza von einer stillenden Frau aus dem Dorf sagt, ihre Brust sehe aus wie der leere Geldbeutel seiner Mutter, oder vom verhaßten Scheich des Dorfes, er habe ihm als Kind mit seinem Stock den Körper in Brand gesetzt, oder wenn er von seiner verbotenen Liebe zur verheirateten Händlersfrau erzählt, mit der er "aus Angst davor, das Gewissen aufzuwecken" in der Dunkelheit nur flüstert, während sein Herz "springt wie ein Fisch im Trockenen". Am tiefsten freilich brennt sich dem Gedächtnis des Lesers der sengende Staub ein, der das sudanesische Dorf und seine Menschen allmählich unter sich begräbt.

Derweil zieht Hamza, der Dörfler, immer weiter nord- und stadtwärts, zunächst im eigenen Land "in die Stadt" (Omdurman), dann weiter nach Ägypten "in eine andere Stadt" (Kairo) und schließlich nach Europa "in andere Städte" (Rom, Lyon und Amsterdam). Obwohl ihn das Heimweh quält, dauert es fast anderthalb Jahre, bis er den Weg zurückfindet ins Dorf. Er kommt zu spät. Wo einst das Lehmhaus der Familie stand, erwartet ihn staubfarbenes Nichts.

Die Wanderung gen Norden, sie ist nicht nur ein oft bearbeitetes Thema, sondern auch der Titel eines berühmten Buches in der modernen arabischen Literatur. "Zeit der Nordwanderung" heißt der 1969 erschienene und längst zum Klassiker avancierte Roman des in London lebenden Sudanesen Tajjib Salich; daß er seit drei Jahren auch auf deutsch vorliegt, ist ein Verdienst des Basler Lenos Verlags. Im Zentrum dieses raffiniert komponierten Werks steht ein sudanesischer Intellektueller, der in seinen jungen Jahren als Stipendiat in England das exzentrische Leben eines Dandys führt, nach mehrjähriger Gefängnishaft, die er wegen Mordes an seiner englischen Frau zu verbüßen hat, in den Sudan zurückkehrt und dort in einem Dorf am Nil ein neues Leben beginnt, das sich eines Tages mit dem des Erzählers, eines ebenfalls heimgekehrten England-Stipendiaten, kreuzt. Eltayeb hat dem Buch seines namhaften Landsmanns eine ganz und gar andere "Nordwanderung" an die Seite gestellt. So sollte man denn auch eigentlich beide Bücher lesen: Salichs virtuos inszenierte Geschichte über den Konflikt von traditionaler Lebensform und westlicher Welt aus der Sicht des priviligierten Intellektuellen - und Eltayebs schlichte, auf alle Inszenierung verzichtende Geschichte des mittellosen Illegalen vor den Toren der Festung Europa. Und zwar in dieser Reihenfolge.

Anders als Salich, der in seinem vielbezüglichen Roman immer wieder die politischen Dimensionen des Nord-Süd-Konflikts zur Sprache bringt (und dabei vieles von dem vorwegnimmt, was in unseren Breiten erst jetzt als wichtig erkannt wird), läßt Eltayeb Politisches nur indirekt und insofern einfließen, als es seinen unerfahrenen Protagonisten unmittelbar betrifft. So ist in den Städten ohne Dattelpalmen nicht die Rede von dem seit 1989 im Sudan herrschenden Militärregime und auch nicht von dem seit 1983 im Südsudan tobenden Bürgerkrieg mit seinen viereinhalb Millionen Flüchtlingen und zwei Millionen Toten; wohl aber von bitterster Armut und Dürre, von islamischer Dorfautorität und städtischer Arbeitslosigkeit, von Kleinkriminalität und Illegalität.

Tarek Eltayeb erzählt ganz und gar unsentimental und schlicht. Alles erscheint aufs Einfachste reduziert, von der Erzählerfigur über die Erzählstruktur bis hin zur Sprache. Die Einfachheit überzeugt. Denn erzählt wird aus der Perspektive des jungen Hamza und damit aus der Perspektive der Armut - einer Armut, die der Text nicht nur zum Ausdruck bringt, sondern deren Ausdruck er selbst ist. "Wir brauchen zuerst Medikamente und dann Essen, und zuerst Essen und dann Wissen", sagt Hamza einmal. Der Satz ist geradezu paradigmatisch für diese neue, zeitgemäßere Gestaltung des alten Stoffes. Der ihn sagt, ist nämlich kein bildungshungriger Stipendiat, sondern ein ungebildeter, hungernder Migrant, der sein (heute vielfach als "Schurkenstaat" verdammtes) Land verläßt, einige wenige glückliche Momente erlebt, darunter erstes Kino und erste Liebe, vor allem aber düstere Erfahrungen macht mit der Stadt und mit der westlichen Zivilisation.