Was wir in dieser Stadt haben

Cover Interkultureller Kalender 1996/97

Was wir in dieser Stadt haben,
ist ein Haus aus Papier
und ein Schlüssel
und eine Kerze für den Winter und die Nacht.

Unsere Landkarte ist alt,
sie taugt und hilft nicht mehr.
Wir sehen die gleichen Landkarten
in den Museen rund um die Welt.
Museen für die Flüchtenden vor dieser Welt,
die aus ihr heraustreten,
für einen Traum,
der den Schmerz der Gegenwart lindern soll.

Was wir in dieser Stadt haben,
sagten sie, hätten wir schon vor dem Betreten
an der Grenze erhalten.
Wir würden Luft und Wasser vermindern,
den Ort für die Lebenden und die Toten beengen.

Wir haben in dieser Stadt
ein Heer von Kühen,
damit Milch fließt,
einen Schwarm Bienen
im Keller ohne Kِönigin gezüchtet.
Wo ist die Schachkönigin,
die uns vor dem Krieg errettet
gegen Pferde und Springer,
bewahrt vor einer Änderung der Spielzeit
und einer Abgrenzung des Spielfeldes?

Wir haben in dieser Stadt
Augen der Abneigung,
die auf uns gerichtet sind.
Ihre Stimmen umkreisen
die Vergangenheit,
die Gegenwart,
die Rückkehr
wohin?

Wir haben in dieser Stadt
neue Namen
mit neuem Klang
und Papiere
und Stempel
und Tage.

Wir haben in dieser Stadt
einen Koffer oder zwei,
einen Wandkalender, der vorgibt,
die Tage und die Jahre zu zählen,
und einen Berg abgetragener Schuhe
und Reiseverbote.

Wir haben
Reste verrosteter Fragen,
die sich immer wieder selbst stellen:
Was haben wir?

Wien, 5.5.1995

Erschienen in Interkultureller Kalender 1996/97
(Verband Wiener Volksbildung, Wien 1996).